7 Tage - 7 Songs (5/7): Fehlfarben - Paul ist tot (1980)

21.09.2015 | 0 Kommentare | motorhorst

Ein Schritt vor, zwei zurück. Der musikalische Lebensweg folgt oft nicht der Chronologie von Releases und Trends, deswegen führt uns in den 2000ern Entdecktes zurück in die 80er. Und zum Beton.
Zeitlich ist das ein Schritt zurück, in meiner persönlichen musikalischen Biographie beginnt das Kapitel Fehlfarben aber erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
 
Die Geschichte der Neuen Deutschen Welle ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Zumindest für mich und sicher auch für viele andere Spätgeborene, für die es eine Selbstverständlichkeit darstellt, das Proseccoglas jubelnd in die Luft zu recken und schnell auf die Tanzfläche zu torkeln, wenn Nena das Lied von den 99 Luftballons singt oder Geier Sturzflug das Bruttosozialprodukt steigert.
 
Den Begriff NDW habe ich irgendwann zu Beginn der 80er mal in der Bravo gelesen oder in den Schlagern der Woche auf Bayern 3 gehört. Ziemlich sicher lief damals eine Sendung im Fernsehen, entweder der Rockpalast oder etwas vergleichbares, wo zahlreiche Bands der so genannten Neuen Deutsche Welle spielten, ich kann mich dabei noch an Ideal erinnern, andere Acts könnten eventuell Spliff oder Nena oder auch BAP gewesen sein. Da dies das erste Live-Konzert war, das ich sah, haute mich das ziemlich um, also diese vielen Menschen vor der Bühne und wie die da im Einklang alle mitklatschten, wenn es auf der Bühne rund ging oder eingefordert wurde, mitzumachen. Ja, eigentlich muss damals BAP dabei gewesen sein, denn dieses mechanisch-dumpfe Einklatschen lässt automatisch "Verdamp lang her" in meinem Hinterkopf erschallen, wie schrecklich.
 
Moment mal, BAP und NDW? Bist Du Dir sicher? Ja, genau da geht es los mit dem Riesenmissverständnis. An der Stelle kommt mir übrigens eine andere Zeile in den Kopf, die Tom Liwa gut zehn Jahre später über eine ganz andere Welle von deutschsprachigen Bands sang: "Fünf Jahre nach mir und drei Jahre nach Blumfeld kaufen sie alles ein, was deutsch singt und laut genug lügen kann. Und viele von denen sind besser als wir es je warn."
 
Der Punkt auf den ich hinaus will ist der, dass es zwei NDWs gab. Zum einen die oben beschriebene, die ich kannte. Die ich im Radio hörte. Und die für mich dank zweier BRAVO-Poster auch herrlich systematisiert wurde: Alles was deutsch sang und Schlafanzüge auf der Bühne trug, gehörte zur NDW. Idiotisch wie diese Definition war auch die Reihe der Bands, die auf diesen Postern gelistet war: Neonbabies, Relax, Palais Schaumburg, Frl. Menke, Kraftwerk, Spider Murphy Gang, BAP, Hubert Kah. Ich habe da natürlich vor allem die unpassenderen heraus gesucht, aber da eben Bands wie Relax oder Spider Murphy damals besonders präsent war, habe ich die dann eben auch als die Vertreter dieser Musikgattung wahrgenommen und von den anderen wenigstens den Namen mal gelesen, auch wenn die nie im Radio liefen (also Palais Schaumburg, Neonbabies oder The Wirtschaftswunder). Und in meiner kindlich-jugendlichen Unbedarftheit kaufte ich mir auch gerne die UKW-Single "Ich will" (absurderweise neben "Wissenswertes über Erlangen" von der Max-Goldt-Band "Foyer des Arts") und feierte Hubert Kah und natürlich Nena.
 
Dann war das aber irgendwann auch gegessen. Andere Musikströmungen wie der frühe HipHop, vor allem aber New Wave und New Romantics-Sachen waren einfach viel interessanter, von frühen Chicago House-Geschichten ganz zu schweigen. Das was ich als NDW kannte, ließ nur noch Trottel auf noch größeren Trottel-Parties komplett ausrasten (ja, auch damals war die Nostalgie schon nicht mehr das, was sie mal war) oder wurde über den neu aufgekommenen Vertriebskanal Fernsehen verramscht, wo man dann eine CD mit den 88 größten NDW-Hits kaufen konnte. Ironischerweise wurden diese Werbejingles an irgendeiner Stelle immer mit dem Satz "Keine Atempause - Geschichte wird gemacht: Es geht voran!" untermalt, was bei mir aber kein Glöckchen des Wiedererkennens klingeln ließ. Die Fehlfarben waren mir jenseits ihres Bildes auf dem ominösen Bravo-Posters absolut kein Begriff.
 
Auftritt Jürgen Teipel. 2001 veröffentlichte er "Verschwende Deine Jugend", eine oral history des Punk und New Wave, also der Neuen Deutschen Welle in Deutschland. Also der echten NDW. Die, die es gab, bevor die Industrie den ganzen Trend vereinnahmte und die Produkte auf den Markt warf, für die ich schon so viel Platz in diesem Text verbraucht habe. 
Plötzlich ergab das alles viel mehr Sinn. Über den zugehörigen Sampler zum Buch und die anderen Quellen, die man so hat, erschloss sich mir knapp 20 Jahre später eine Musiknische, für die ich seinerzeit einfach noch 3-5 Jahre zu jung gewesen war. DAF waren mir tatsächlich schon ein Begriff, "Der Räuber und der Prinz" hatte ich eventuell in Bio's Bahnhof oder bei Formel Eins schon gesehen und fand das zumindest witzig. Ideal war eh gut, Blaue Augen, Ich steh' auf Berlin - Bombe! Neubauten hatte ich auf dem Schirm, seit mir xmagic die "Tabula Rasa" geschenkt hatte und seit "Ende Neu" hab ich sie geliebt.
Aber was war z.B. mit diesem Referenz-Album, das immer wieder genannt wurde? Das in vielen Listen, auch den allgemeiner gehaltenen, auf vorderen Plätzen auftauchte und zum Teil sogar den Titel "Bestes deutsches Album aller Zeiten" trug?
 
An "Monarchie und Alltag" von den Fehlfarben führte kein Weg vorbei. Auch wegen der ominösen Geschichte, dass der Sänger und Texter Peter Hein kurz nach dem Album und vor der ersten Tour die Band verließ. Ein Hauch von Joy Division im Kleinen? Nur, dass hier der Job bei Rank Xerox zum Glück den Freitod ersetzte?
Kurz gesagt: Ein Killer-Album. "Gottseidank nicht in England", da ist ja schon der Titel pures Gold. "Grauschleier", "Das sind Geschichten", "Apokalypse". Nur Hits. "Militürk", hmmm, das hatte ich schon mal gehört, von dieser anderen großen Band, der ich mich jetzt wieder erinnerte und die mit ihren minimalen, aber wuchtigen Elektro-Beats sofort den Weg in die heavy horsty rotation fand: Bei DAF hieß der Song, der auf einem Mittagspause-Stück beruht "Kebab-Träume". 
Und ja, da war ja auch das Stück, das ich kannte, seit Jahren, ohne es wirklich zu kennen: "Ein Jahr (Es geht voran)", genau, das aus der Werbung. Das war schon eingängig, aber fast das schwächste auf dem ganzen Album.
 
Ein Jahr später hatte ich Teipel dann live gesehen, in einer Multimedia-Show gab es nochmal Standbilder von den Interviews fürs Buch und dazu die O-Töne vom Band, die man aus dem Buch kannte. Und kurz darauf war wieder Popkomm in Köln, ein Fest. Ein Kurztrip nach Düsseldorf führte mich nachmittags zur "Zurück zum Beton"-Ausstellung, quasi der musealen Version des Teipel-Buchs.
Im Gebäude 9 sollten die Fehlfarben am Abend ihr erstes wiedervereinigtes Konzert (sieht man von einem Showcase in einer Galerie ab) geben, noch dazu mit Kreidler als Vorband. Das schlug ich mir aber gleich aus dem Kopf und war mit der Straßenbahn schon auf dem Weg ins Hotel, als säm mich anrief und meinte, gerade würden sie wieder Leute in die Halle lassen, die einen Messeausweis hatten. Also zurück, rein und dann stand man direkt vor der Bühne, von der Peter Hein später "Zurück zum Beton"-Buttons und den zugehörigen Mittagspausen-Song werfen sollte. Aus einem Guckloch oben schaute Mufti, also FM Einheit von Abwärts bzw. Neubauten heraus, auf einmal waren die Figuren aus dem Buch vor meinen Augen zur Realität geworden.
 
Der letzte Song des Konzerts war der, der auch der letzte auf dem Album ist. Der, der die Essenz der Fehlfarben ist, mindestens die Essenz von Monarchie und Alltag. "Paul ist tot". Der kryptische Text scheint vom Verlust einer Person zu handeln, mit der Peter Hein einst noch "flipperte, zusammen", Paul wäre nun aber tot, kein Freispiel mehr drin. Letzten Endes war Paul zwar nur der Flipper selbst, aber egal, das ging aus den Lyrics nicht hervor und so kann man sich selbst seine eigene Bedeutung zusammen reimen. 
Aber ich springe schon wieder: Die Gänsehaut, die der Anfang des Stücks schon herbei zaubert: Dieses plinkplinkplink, auf dem Hals der Gitarre gespielt und schon setzen die Synthie-Flächen ein und lassen schon nix Gutes vermuten und tatsächlich: Ein Saxofon setzt ein! Kleiner Spaß, so schlimm ist das nicht und wenn ein Saxophon nix kaputt machen kann, dann ist das ein guter Song! Nach über einer Minute beginnt der großartige Text, also zu einem Zeitpunkt, wo ein zeitgenössischer Punk-Song bereits vorbei ist oder zumindest in seinen finalen Zügen liegt.
"Paul ist tot" dauert fast 8 Minuten und es reiht sich ein zitierfähiger Satz an den anderen, aber der eine entscheidende kommt nach zweieinhalb Minuten zum ersten Mal und jeder, der ihn vorher wenigstens einmal gehört hat, brüllt ihn in diesem Moment mit: "WAS ICH HABEN WILL, DAS KRIEG ICH NICHT - UND WAS ICH KRIEGEN KANN, DAS GEFÄLLT MIR NICHT!".
Ein Monument von einem Slogan, den man auf alles und jeder für sich auf etwas anderes beziehen kann und der immer richtig ist.
 
Ich habe die Fehlfarben seit damals schon ein gutes halbes Dutzend mal gesehen und natürlich stellt sich nie dieser Effekt des Neuen bzw. genauer gesagt des unerwartet Ausgegrabenen bei einer archäologischen Expedition in die 80er mehr ein. Aber bei jedem Fehlfarben-Konzert gibt es diesen einen magischen Moment, wo die Band einen immer wieder kriegt.
Ein solcher Moment war ein halbes Jahr nach dem Gebäude-9-Auftritt in Erlangen, als ich zwei ältere Herrschaften beobachtete. Einer der beiden hatte eine neue Errungenschaft mitgeschleift, die nicht wirklich großen Spaß an dem Abend hatte, mit einer Musik, die ihr fremd war und einem Nostalgierausch ihrer beiden Begleiter, den sie nicht nachvollziehen konnte. Bei "Paul ist tot" hatte die Dame den Saal des E-Werks bereits verlassen, die beiden Herren reckten ihre Weizengläser in die Luft, hatten die freien Arme um einander gelegt und brüllten mit Tränen in den Augen "Was ich haben will, das krieg ich nicht - und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht" und es gab keinen Zweifel daran, dass die beiden in diesem Moment einen der schönsten Augenblicke ihres Lebens hatten.
 
 
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