Gegengift zur Popkultur

10.10.2006 | 24 Kommentare | wowo101

Diesmal: Andrej Tarkowskij - Solaris (1972)
Auf den Ratschlag des guten Onkel Jarvis hin, sich nicht mit Popkultur zu betäuben, sondern auch mal ein Buch zu lesen, soll diese Serie allmonatlich ein sperriges Stück sogenannter Hochkultur vorstellen - auf dass die Motorjugend geistig rege bleibe. Einzige Bedingung: Das vorgestellte Kleinod muss ohne Umschweife erreichbar sein. Wenn auch nicht unbedingt zugänglich.

Unter den großen Kinoautoren des 20. Jahrhunderts ist Andrej Tarkowskij sicher einer der am seltensten gesehenen und gezeigten. Nur sieben Filme hat er gedreht, und auch wenn daran vor allem die Kulturbürokratie der Sowjetunion schuld war, wirken seine Filme, als ob jeder von ihnen so viel Zeit gebraucht hätte, dass für mehr nicht Platz war in einem Leben.

Basics

Der bekannteste - und nach allgemeinem Dafürhalten zugänglichste - ist Solaris, ein Science Fiction nach dem gleichnamigen Buch von Stanislaw Lem und Gewinner des Großen Preises der Jury in Cannes 1972. Der Inhalt: Der Psychologe Kris Kelvin wird zur einer Raumstation geschickt, die den Planeten Solaris umkreist und auf der seltsame Dinge geschehen. Allein mit dem zynischen Exobiologen Sartorius und dem melancholischen Kybernetiker Snaut, wird Kelvin auf der Station bald mit Erlebnissen konfrontiert, die den positivistischen Sachverstand seiner Naturwissenschaft übersteigen und ihn auf seine ureigensten Ängste und Hoffnungen zurückwerfen.

Oft wird Solaris als "der sowjetische 2001" bezeichnet. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.

Gegen Kubricks perfekt recherchierte und gestylte, unterkühlt inszenierte, abstrakt-obskurantistische Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Menschheit und ihrem Verhältnis zur Maschine setzt Tarkowskij einen radikal subjektiven Blick auf den Menschen und die Welt, die er sich schafft: Auf Verlust und Verdrängung, auf die Verantwortung, die Liebe wie Wissenschaft mit sich bringen, auf das Scheitern daran und die Verzweiflung des Gescheiterten. Und vermittelt dabei etwas, das Kubrick fremd war: Hoffnung.

Faszinosum

Solaris dauert fast drei Stunden. Solaris ist handlungsarm, extrem elliptisch erzählt, und erfüllt kaum unsere Genre-Erwartungen: Der Science-Aspekt bleibt fast vollständig außen vor, futuristisch will uns weniges erscheinen, und die Begegnung mit dem Außer-Irdischen spielt nur am Rande eine Rolle. Und doch ist Solaris einer der spannendsten und bewegendsten Filme, die ich kenne. Warum?

Weil Tarkowskij uns auf fast schmerzhafte Weise Kelvins Geschichte mit-erleben lässt. In langen Einstellungen und suggestiven Bildern sehen wir mit Kelvin: Können die Trauer spüren in seinem Blick und in der Natur, die er betrachtet und doch nicht sieht. Seine Einsamkeit, wenn er sich Rücken zu Rücken mit dem Vater unterhält. Seine Furcht in den langen Korridoren der Raumstation. Seine Hoffnung, wenn er mit der geheimnisvollen Hari das Bett teilt. Seine Angst, wenn er sie in Agonie findet.

How to

Tarkowskij erzählt das alles nicht logisch stringent, er erzählt es intuitiv plausibel. An einem konsistenten Plot hat er kein gesteigertes Interesse - sondern an Bildern, die Erinnerungen, Emotionen evozieren. Er will die Wirklichkeit in ihrem eigentümlichen Rhythmus abbilden; wir sollen die Zeit teilen, die seine Protagonisten erleben. Der Schnitt ist bei ihm deshalb kein dramaturgisches Mittel wie bei Eisenstein oder Hitchcock, sondern Fortsetzung und Verbindung des Rhythmus in den Einstellungen, der dort festgehaltenen Zeit.

Auch Symbolismus ist Tarkowskij ein Gräuel: Jeder Gegenstand - und noch viel mehr jede Figur - hat in jeder Szene das zu sein, was er in Wirklichkeit ist, nicht Platzhalter für eine abstrakte Idee. Wofür der Regen stehe in seinen Filmen, hat man ihn gefragt - "Er gehört zu der Landschaft, aus der ich komme." hat Tarkowskij geantwortet. Das mag natürlich nicht glauben, wer gelernt hat, die Bedeutung hinter den Bildern und in den Zeichen zu suchen. Tarkowskij aber ist kein Regisseur der Zeichen, der zu entziffernden Bilder, sondern einer der intuitiv wirksamen. "Viele finden Tarkowskij schwer zu verstehen", sagt Akira Kurosawa über ihn, "aber das sehe ich anders. Tarkowskij hat einfach ein feineres Gespür für Intuition als wir anderen."

Das soll nicht heißen, dass sich Solaris in seinen Bildern erschöpft. Im Gegenteil, Tarkowskij arbeitet hier ungewöhnlich plot-orientiert: Immer wieder weist er mit scheinbar unverständlichen Details auf das voraus, was uns erwartet, lassen uns die Ereignisse an Bord der Station schaudern, wollen wir wissen, was hinter ihnen steckt. Und über die Evokation von Gefühlen und Erinnerungen hinaus haben die Bilder eine diskursive Funktion. Durch die Szenen, die vor der Abreise Kelvins auf der Erde, in der Natur spielen, und durch deren Kontrast zur Solaris-Station rückt Tarkowskij das Verhältnis des Menschen zu seiner Welt in den Blickpunkt: "Wir wollen das Weltall gar nicht erobern", sagt Snaut im Film. "Wir wollen die Erde endlos ausdehnen. [...] Der Mensch braucht den Menschen!"

Am stärksten aber wirkt dieser Gedanke wiederum dann, wenn wir einfach sehen, wie sehr Kelvin Hari braucht, wie groß seine Sehnsucht nach dem elterlichen Zuhause ist. Wir müssen uns nichts erschließen, wir sehen die Gesten und verstehen die Gefühle. Und hoffen ob ihrer Kraft auf ihre Erfüllung.

Und?

Am Ende geht man aus dem Film nicht mit dem Gefühl, alles verstanden zu haben, sondern mit dem Wissen, alles gefühlt zu haben. Haris Blick wird einen durch den nächsten Tag begleiten und Kelvins gebeugter Gang, der Brueghel im Salon der Raumstation und der Regen, der am Ende auf die Bücher des Vaters fällt. Und man wird Solaris mehr als einmal sehen wollen, um mehr davon zu verstehen.

Darin ist Solaris dann doch wie 2001: Dass man einen Science Fiction sieht und weiterdenken muss.

Veranstaltunsghinweis

Solaris läuft am Mittwoch, 11.10., um 22:55 Uhr auf Arte. Tarkowskijs übernächster Film, Stalker, folgt eine Woche später.

Auf DVD lohnt sich die Ausgabe der Criterion Collection. Sehr zu empfehlen als ergänzende Lektüre (aber nur noch antiquarisch erhältlich): Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, Ullstein 1985.
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Bewertungen

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Kommentare

lindihopp am 10.10.2006 um 10:19 Uhr:

okay, wird angeschaut!

mcmuse am 10.10.2006 um 15:22 Uhr:

ebenfalls sehr spaßig ist im übrigen andrej rubeljow, ein dreieinhalbstündiges (!) epos übner die geschichte eines glockengießermönchs in der taiga.
sehr monumental, incl live getöteter pferde (nein, ein pferd, das vier meter tief von einer steintreppe fällt, ist tatsächlich tot) und ein wahres erlebnis, insbes. eben die 3 1/2 stunden OV mit englischen untertiteln.
aber vielkleicht erstmal solaris kucken.

cleo am 10.10.2006 um 15:52 Uhr:

tut zwar hier nicht so richtig viel zur sache, aber: in Herr der ringe (ich glaub no. 2) gibt es ein 2001 zitat, dass da natürlich mal gar nicht reinpasst.
(nämlich: der zauberertyp sirbt und fliegt durch die kubrikschen lichterwelten.)abgespaced, das.

schön, das das orginal solaris hier mal gewürdigt wird, wie ist denn das remake? lieber lassen oder zu vergleichszwecken ganz anregend?

wowo101 am 11.10.2006 um 01:31 Uhr:

zu vergleichszwecken ja: stilsicher aber oberflächlich wie immer, der gute herr soderbergh. wesentlich straffer und mainstreamiger inszeniert, mit klarem fokus auf die fragen nach identität und gedächtnis - und, verglichen mit dem original, sowas von überhaupt nicht bewegend...

wowo101 am 11.10.2006 um 13:15 Uhr:

(die fünf sterne nach wie vor für's original, herr soderbergh kriegt drei.)

Christian_alternakid am 11.10.2006 um 15:11 Uhr:

zunächst: brillanter text, hervorragende analyse. *verneige mein haupt in ehrfurcht*

Christian_alternakid am 11.10.2006 um 15:24 Uhr:

so und jetzt rein in die randaspekte diskussion:

"Und vermittelt dabei etwas, das Kubrick fremd war: Hoffnung."

sehe ich nicht, im gegenteil ist es doch so, dass Kubrick ein großer humanist ist, bei dem die hoffnung doch immer schimmert... ...nur unter der kühlen oberfläche begraben, hinter dem sezierenden blick auf die schlechtigkeit des menschen verborgen ist. gerade die frage nach würde, toleranz und freiheit sind doch die grundsujets an denen sich Kubrick, egal in welchem genre er nun gerade tätig war, ein ums andere mal abarbeitete.
ob in 2001, A Clockwork Orange oder Eyes Wide Shut - hinter dem kalten blick auf das menschsein steht bei Kubrick doch immer die Hoffnung auf das gute, das letztendlich siegen möge. das herz pocht, man muss nur hinhören. nie deutlicher als in der schlußsequenz von Paths Of Glory, die vielleicht das herzbewegendste ist, was ich jemals im Kino gesehen habe. in A Clockwork Orange vertritt Kubrick dezidiert doch des menschen freiheit als das absolute und verführt, ja, überzeugt uns gerade weil er Alex als monster präsentiert, dazu, uns für die Würde des menschen, für das individuum zu entscheiden und gegen eine dem menschen übergeordnete moral, deren befolgung einen größeren wert haben könnte als das menschsein des menschen. wie Kubrick zu Clockwork Orange erklärte, wäre es eben keine kunst, Lynchjustiz zu verurteilen, wenn klar wäre, dass der Gelynchte unschuldig war, aber dass die leistung darin bestünde, klar zu machen, dass Lynchjustiz eben auch falsch sei, wenn gerade der Gelynchte schuldig ist.

wowo101 am 11.10.2006 um 16:04 Uhr:

danke für die blumen! ich versuche ja nur das vorgelegte niveau zu halten...

und dann:

ich gebe dir völlig recht, kubrick war ein großer humanist, und hinter der kühlen oberfläche seiner filme steckt ein zutiefst menschliches anliegen.

nur:

bei tarkowskij stehen spiritualität und das streben, die sehnsucht nach dem absoluten im zentrum des werks, und sein anspruch an die kunst ist, dass sie diesem streben ausdruck verleiht und es befördert. er ist ein zutiefst gläubiger mensch, und aus diesem glauben speist sich eine ganz und gar unintellektuelle hoffnung für das - nun ja - menschengeschlecht.

kubrick dagegen war ein ganz großer skeptiker. ein ungläubiger, ein humanist, der (siehe deine absolut zutreffende analyse von a clockwork orange) vehement werte vertritt - aber der pessimistisch genug ist, sie in seinen gesellschaftsportraits immer wieder scheitern zu lassen. nicht umsonst ist der schluss von paths of glory/i> (kann ich jedesmal wieder heulen bei, mann o mann) das letzte mal, dass ein kubrick-film mit einer so offen ausgedrückten, nicht relativierten hoffnung endet. dagegen a clockwork orange...

anders der schluss von solaris: klar stellt sich da (wie im ganzen film) die frage, ob sich kelvins sehnsucht erfüllt, oder ob er einer illusion erliegt - aber diese sehnsucht wird ganz ungebrochen dargestellt, sie ist von keinem skeptizismus, keiner relativierung angekränkelt. darin eben sehe ich den unterschied zu kubrick: dass sich tarkowskij traut, so naiv zu hoffen.

(was mich im übrigen eher befremdet als kubricks humanismus - aber das ist ja gerade das spannenende an tarkowskijs filmen: sie be-fremden einem die moderne, indem sie einem den menschen näherbringen.)

wowo101 am 11.10.2006 um 16:05 Uhr:

(wie kriegt man denn beim kommentieren diese vermaledeiten sterne abgeschaltet? da klickt man extra auf keine meinung, aber das weiß mh.de offensichtlich besser...)

Basti am 11.10.2006 um 16:10 Uhr:

das ist wirklich hervorragend geschrieben. Ich befürchte nur, dass ich heute abend zu müde sein werde, um mir Solaris anzusehen.

lindihopp am 11.10.2006 um 17:48 Uhr:

macht doch mal die klammer zu

Marquant am 11.10.2006 um 17:49 Uhr:

bitte

wowo101 am 11.10.2006 um 17:56 Uhr:

das war ich, gell... (*blush*) ich und meine tags, jaja.

lindihopp am 11.10.2006 um 17:56 Uhr:

hab ich doch schon selbst gemacht, bin ja a ned bleed!

wowo101 am 11.10.2006 um 17:56 Uhr:

aber: das mit den sternen! bitte klärt mich auf!

lindihopp am 11.10.2006 um 17:59 Uhr:

einmal bewertet, immer bewertet. will heißen, die berwertung kommt in allen deinen weiteren kommentaren zu diesem text wieder.

wowo101 am 11.10.2006 um 18:01 Uhr:

jawoll! gleich nochmal! (aber danke. ich dachte schon, ich sei klickbehindert.)

Christian_alternakid am 11.10.2006 um 18:24 Uhr:

wowo (gibts eigentlich auch einen namen dazu, mit dem man dich vernünftig anreden kann ohne an rotrotekoalitionen und millionen von schulden zu denken?), ich wollte nur die Kubrick seite richtig stellen bzw bewerten, des Tarkowskij vergleichs habe ich mich entzogen, da fehlt mir die fundierte meinung.

ganz richtig wie du Kubrick zusammenfasst (im übrigen ist die schlußszene von Paths Of Glory tatsächlich auch bei mir eine von zwei szenen der filmgeschichte bei der mir immer tränen in den augen stehen), aber ich bin schon häufig über das vorurteil gestolpert, dass Kubrick kalt wäre und den menschen nicht schätzen würde, nur seinen sezierenden blick darauf würfe, wobei nichts weiter von der wahrheit weg wäre.

im übrigen finde ich dass es im letzten Kubrick auch wieder einen offenen weg zur hoffnung gibt, der durch nichts verstellt wird. der fantastische, völlig unterschätzte Eyes Wide Shut ist ja letztenendes auch sehr versöhnlich.

wowo101 am 11.10.2006 um 18:58 Uhr:

christian, völlig richtig: das ist zwar eine gedämpfte hoffnung in eyes wide shut, aber tatsächlich sehr versöhnlich. die entscheidung zweier erwachsener menschen eben. und unterschätzt werden wird er wohl noch ein paar jährchen, und dann wird keiner mehr verstehen, warum.

und wer kubrick kalt findet, der würde tarkowskij für tranig halten.

wolfgang's the name, im übrigen - und welches ist der andere tränenfilm?

Christian_alternakid am 11.10.2006 um 19:36 Uhr:

der andere tränenfilm ist Wild At Heart aufgrund der bereitschaft völlig over the top zu gehen. den ja schon während des films immer angedeuteten weg ins märchenhafte tatsächlich zu beschreiten und zu einer fairytale über die unkaputtbarkeit wahrer liebe zu werden, was auch immer die welt da draußen, so verrückt und welch wildes herz sie auch immer haben mag, dagegen tun will.
für mich persönlich ist Wild At Heart ja auch der romantischste film ever (EVER!). für mich völlig entwaffnend, all in mir angelegter zynismus wird durch diese melange aus brutaler gewalt, perversion, trauer und hass an die wand gedrückt und macht geradewegs auf der flugbahn zu meinem herzen die lichter an.

wowo101 am 12.10.2006 um 10:32 Uhr:

auch lustig: wenn sich amazon nicht so anstellen würde, dann könnte ich dem jetzt zustimmen oder widersprechen. aber so muss ich noch ein paar wochen warten. bin jetzt natürlich um so gespannter.

cleo am 12.10.2006 um 12:31 Uhr:

gerade wenn man clockwork orange, das buch von burgess, mit clockwork orange, dem film, vergleicht, sieht man doch, wie viel hoffnung kubrick in die geschichte reingebracht hat. oder?

wowo101 am 12.10.2006 um 14:13 Uhr:

naja, das fazit ist bei kubrick ja nicht gerade hoffnungsvoll: eine korrupte gesellschaft tut was sie kann, um die bestehenden verhältnisse zu konservieren. mangels kenntnis kann ich das mit burgess leider nicht vergleichen...

Fix am 12.10.2006 um 21:07 Uhr:

und für euren diskurs nochmal sechs dazu..


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