Über Jahreslisten

24.01.2014 | 0 Kommentare | motorhorst

Nicht der Sinn und Unsinn von Jahrescharts soll das Thema. Es geht eher um die Merkwürdigkeiten und das Erstaunliche.
Ein Text über Jahreslisten? Jetzt? Wo die ersten Listen 2013 schon bald seit einem Vierteljahr veröffentlicht wurden und der ein oder andere Redakteur schon an den besten Alben 2014 schreibt (das ist ein Witz, das macht man natürlich erst in der Nacht vor Abgabe)? Ja, jetzt erst. Und das hat auch einen Grund, den ich schon wieder bereue.

Ich wollte tatsächlich noch die Leserjahreslisten, insbesondere von intro und Musikexpress abwarten. Denn im Gegensatz zu den Redaktionscharts, die oft schon im November, spätestens Anfang Dezember gedruckt (und folglich spätestens Anfang November geschrieben) sein müssen, kann es durchaus mal Februar des Folgejahres werden, bis man auch das Urteil der werten Leserschaft hat. 
Nachdem die Ergebnisse der intro-Umfrage seit dieser Woche vorliegen, muss ich aber zugeben, dass das Warten ein Fehler war. Die Listen haben mich teilweise sprachlos gemacht, vor allem, weil mir kein deutsches Wort einfallen will, das die Härte und den Klang von ape shit hat.

Natürlich werden Lesercharts von der Ausrichtung des zugehörigen Magazins beeinflusst. Alleine von den Themen her, denn die prägen ja nicht nur die Wahrnehmung einzelner Titel während des Jahres, sondern bestimmen durch ihre Grundausrichtung schon die Zusammensetzung der Leserschaft an sich. Deshalb tauchen Paul McCartney, Jonathan Wilson oder Jake Bugg eben nur beim Rolling Stone in guter Position auf, während das Album von  Woodkid nur bei der intro relativ weit vorne landet (jeweils bei Redaktion und Lesern).
Davon abgesehen gibt es bei einigen Blättern aber die Tendenz, zuerst die Redaktionscharts zu veröffentlichen und dann erst um die Stimmabgabe der Leser zu bitten, was dem "Ach, mal schauen, was die so gewählt haben"-Schlendrian natürlich nur Wasser auf die Mühlen gibt.

Profilierungssucht
Schwierig wird es, wenn Alben seit langer Zeit heiß erwartet werden, die Promo- und/oder Geheimniskrämereimaschine auf Hochtouren läuft und die Scheiben sich dann auch noch verkaufen. Womöglich noch einen Konsenshit haben. Das ist für Redaktionen natürlich erst mal schlecht. Denn wie soll da eine Distinktion stattfinden? Na ja, logisch: Durch eine entsprechende Herabstufung in den Jahresendcharts.
So taucht Daft Punks Random Access Memory bei der Spex überhaupt nicht in der Redaktionschart der 20 besten Alben auf, ebenso wenig wie bei den Kritikern des Rolling Stone.
Klar, es geht hier nicht um ein Gutfind-Muss, gerade das Daft Punk Album hat natürlich seine Längen, aber halt auch wenigstens 3 Überhits und wird insgesamt 14 Mal bei 17 ausgewerteten Jahrescharts genannt.

Ein ähnliches Schicksal ereilt Arcade Fires Reflektor (welches z.B. beim Spin Magazine einen abfälligen Platz 37 erhält, eine größere Schmähung hätte auch ein Komplett-Ignorieren nicht sein können - vermutlich hatte sich einfach keiner der Redakteure beim Probehören verkleidet gehabt).  Und auch Kanye Wests Geniestreich Yeezus wird von den Spex-Kritikern (wie den Rolling Stone-Lesern) komplett außen vor gelassen. Gerade bei der Spex natürlich extrem lustig, da hier in der Vergangenheit gerne absurd-unbekannte HipHop-Alben ganz exklusiv und ganz vorne gelistet wurden.

Der Effekt ist, dass bei einer Aggregation aller Platzierungen des Jahres dann eben nicht die genannten Alben auf dem Gesamtplatz 1 landen. Und auch nicht My Bloody Valentine (wo der umgekehrte Effekt eintritt - die wählt man einfach in die Charts rein, alleine wegen Loveless. Da muss man nicht mal das neue Album m b v anhören. Halt genau wie bei Loveless, damals) oder Nick Cave. Sondern die doch eher obskure Indie-Band Vampire Weekend. Klar, die sind einige Jahre dabei, die kennt man, das neue Album kam gut an, aber auf 1 landet es vor allem, da es in 16 von 17 Charts vorkommt (und natürlich auch drei Mal erste Plätze abholt). Ein Konsens-Album im besten Sinne also.

Schräges bis exklusives weit vorne
Dies ist ein Bereich, der im Normalfall eher die Songs betrifft und auch hier war die Spex in der Vergangenheit oft weit vorne dabei, wenn R&B-Hitparaden-Quatsch-Pop-Songs auf Platz 1 gewählt wurden. 
Hier also ein paar Titel, die weit oben in manchen Listen landeten, aber nicht die ganz breite Beachtung fanden.

Moderat - II (intro-Kritiker #3, Musikexpress Redaktion #5, 3 weitere Nennungen)
Woodkid - The Golden Age (intro-Red #5, intro Leser #4, 2 weitere Nennungen)
Dean Blunt - The Redeemer (Spex #3, 3 weitere Nennungen)
Pet Shop Boys - Electric (Spex #8, 4 weitere Nennungen)
Lloyd Cole & The Commotions - Standards (Rolling Stone #6, exklusive Nennung)
Jake Bugg - Shangri La (#9 RS Redaktion, #15 RS Leser)
Babyshambles - Sequel To The Prequel (#7 ME Redaktion, #9 Spex Leser, 1 weitere Nennung)
Casper - Hinterland (intro-Red #6, intro Leser #2, 2 weitere Nennungen)

Gerade Hinterland ist natürlich eine absolute Farce. Die Besoffenheit bei der Promotion dieser Platte als sie erschien, war der einen oder anderen Redaktion im Nachhinein dann wohl doch etwas peinlich, wie so oft, wenn man nach durchzechter Nacht vollgekotzt in der Umkleide der Turnhalle aufwacht, die am Vorabend noch der rauschende Ballsaal war. Dennoch hatte das Album einige der besten deutschen Texte der letzten Jahre parat, die Instrumentierung durch Get Well Soon hievte die Songs auf ein ganz anderes Level, so dass man sogar die ärgerlich-lächerliche Stimme manchmal hin nehmen konnte. Live müsste halt mehr dahinter sein, als das, was man z.B. bei Schlag den Raab hören musste. 
So peinlich hätte sie also allen gar nicht sein müssen, die Casperei.


Vergessenes
"Waaahaaas? Jahreslisten? Aber is doch erst November?" lautet die zweitdümmste Frage, die jedes Jahr dennoch wiederholt gestellt wird (ebenso wie "Du schaust Dschungelcamp?"). Natürlich. Denn danach werden im Allgemeinen nur noch Weihnachtsplatten (Best Ofs, Re-Issues, 48-CD-Beatles-Box mit einem unveröffentlichten Demo von John Lennon) verkauft. Bis Ende Januar dauert die Durststrecke ungefähr, was faktisch bedeutet, dass man beinahe 3 Monate ohne neue Musik auskommen muss. Zumindest hat man dann Zeit, das Verpasste nachzuholen.
Aber: Leider gibt es immer wieder Bands, die sich einen Scheißdreck um diese Zeitvorgaben scheren. Und die dann einfach durchs Raster fallen. Vor ein paar Jahren hatten die Strokes für so etwas wie Bürgerkriege gesorgt, weil man sich nicht einigen konnte, ob First Impressions Of Earth ein 2005er oder 2006er-Release war (logisch, 2005, wenn es am 30.12. rauskommt).

In diesem Jahr machten die großartigen Messer den taktischen Fehler - ob bewusst oder unbewusst - ihrem hervorragenden Zweitling Die Unsichtbaren Ende November zu veröffentlichen, wo die Listen vieler Magazine (siehe oben) bereits verabschiedet waren. Deshalb taucht das Album trotz Wohlgesonnenheit vieler Redaktionen nirgends auf.

Ein anderer Grund war für ein ähnlich schlechtes Abschneiden von Tocotronics Wie wir leben wollen verantwortlich. Die Veröffentlichung Ende Januar 2013 hatten viele wohl schlichtweg vergessen, so sprangen nur vordere Plätze bei Lesern (#2) und Redaktion (#4) der Spex heraus, die anderen 5 Nennungen waren weiter unten angesiedelt. Und bevor die Qualitätsfrage wieder ansteht: Natürlich war auch dieses Album eine Offenbarung der gut frisierten Jungs um den wahren Grafen. In der inzwischen 20jährigen Regierungszeit von Tocotronic auf dem Gipfel deutschsprachiger Sangeskunst, gingen so manche Sterne auf und wieder unter, nur die fanatischen Vier thronen immer noch auf dem Olymp.

In diese Kategorie fällt zudem auch Popsternchen Beyoncé, deren plötzliches Album am 13. Dezember ein absoluter Geniestreich gewesen wäre. Also, wenn es nicht am 13. Dezember erschienen wäre.

Komplett durchs Raster gefallen
Dinosaurier wie Depeche Mode, die eigentlich über eine treue Fangemeinde verfügen und jedes Mal auf Platz 1 in die Charts einsteigen (um dann ganz schnell wieder aus den Top Ten zu verschwinden) haben wohl inzwischen ausgedient. Delta Machine, die neuste Legitimation zur Greatest-Hits-Konzerttour, fand in keine Jahrescharts Einzug. Während andere Altmeister wie die schon erwähnten My Bloody Valentine oder auch David Bowie (7 Nennungen für The Next Day) durchaus vorne in der Endabrechnung zu finden sind -  erklären kann das sicher niemand oder bestimmen doch die Ü40er die Rankings? Dagegen spricht die Ignoranz der Abstimmenden gegenüber alten Haudegen wie Pearl Jam (3 Nennungen). Die Klasse von 2005 hat sowieso abgewirtschaftet, ob Strokes (3 Nennungen, Top: #41), Franz Ferdinand (4, #16), Black Rebel Motorcycle Club (1, #64) oder gar die Editors (0 Nennungen. NULL).

Auch andere ehemalige Indie-Heroen hatten nicht den Hauch einer Chance: Sigur Rós konnte mit Kveikur nur 2 hintere Plätze erreichen, während Sluts Alienation überhaupt keine Rolle spielte. 

Apropos Slut. Im deutschen/deutschsprachigen Bereich waren die Auszeichnungen sehr dünn gesät. Wie Casper fiel auch Thees Uhlmann durchs Raster. Nur 2 hintere Plätze standen für #2 zu Buche während sein Debüt im Jahr 2011 noch etliche Top Ten Platzierungen abräumen konnte. Auch die Goldenen Zitronen konnten für ein abermaliges Meisterwerk namens Who's Bad (alleine der Titel ist schon goldwürdig) nur die gewohnten Plätze unter "ferner liefen" einheimsen (3 Nennungen). Platzierungen für Kommando Sonne-nmilch oder Candelilla blieben natürlich aus, zum Glück dann aber auch für Heino (haha, was wäre das andernfalls lustig gewesen).

Die Nummer 1 Alben
Vampire Weekend - Modern Vampires Of The City (3 mal #1, 16 mal genannt, Gesamtwertung Platz #1)
Daft Punk - Random Access Memories (1 / 14 / #2)
KanYe West - Yeezus (3 / 15 / #3)
Arcade Fire - Reflektor (1 / 13 / #5)
Nick Cave & The Bad Seeds - Push The Sky Away (2 / 11 / #6)
Arctic Monkeys - AM (2 / 11 / #7)
Bill Calahan - Dream River (1 / 10 / #13)
Jon Hopkins - Immunity (1 / 9 / #16)
Julia Holter - Loud City Song (1 / 9 / #18)
DJ Koze - Amygdala (1 / 6 / #25)
Casper - Hinterland (1/ 4 / #43)

Die Top-Ten-Alben (in der Endabrechnung), die nicht auf Platz 1 landen konnten
My Bloody Valentine - m b v (Beste Platzierung: 2, 15 mal genannt, Endabrechnung: #4)
Disclosure - Settle (3 / 12 / #8)
Haim - Days Are Gone (2 / 11 / #9)
The National - Trouble Will Find Me (8 / 11 / #10)

In die Übersicht gingen folgende Charts ein:
intro (Top 50), intro Leser (50)
Musikexpress (100)
Rolling Stone (25), Rolling Stone Leser (20)
Spex (20), Spex Leser (20)
Zündfunk (60)
The Guardian (40)
Mojo Redaktion (50)
NME (50)
Pitchfork (50 + 21)
Q Magazine (50)
Rolling Stone US (50)
Spin (50)
Stereogum (50)
The Wire (50

Eine Übersicht über Jahrescharts findet man u.a. hier:
Alben- und Songs-Bestenlisten aus deutschen Rock- und Pop-Musik-Zeitschriften (poplist.de)
Internationale Publikationen (rocklist.net)
International, mit Aggregationszahlenspielchen (The 3000 most acclaimed albums and songs of all time - acclaimedmusic.net)
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