Ich habe die Nerven live gesehen und es war wunderbar

17.11.2014 | 3 Kommentare | motorhorst

Auch im vierten Auswärtsspiel ungeschlagen: Die Nerven im Strom in München
Wenn ich jetzt schreibe "Die Nerven werden mit jedem Konzert besser", dann schwingt da unwillkürlich mit, dass sie am Anfang nicht so gut gewesen wären, was faktisch einfach falsch wäre. Als sie mich vor anderthalb zum ersten Mal in Nürnberg komplett wegbliesen, so war das so intensiv, dass ich danach kein Ohr mehr für die zweite Band Messer hatte (deren Großartigkeit sich mir erst durch die Platte im Nachhinein erschließen durfte). Aber auch der vierte Auftritt von ihnen, dem ich am Samstag im prall gefüllten Strom in München erleben durfte, war wieder allererste Sahne. Vielleicht lag es am Platz direkt vor der Box, dass die Wucht und Intensivität eben noch mal mehr einschlug als selbst ich mit meinen euphorischen Erwartungen angenommen hätte.
Man will ja nie enttäuscht werden, aber schlimmer ist es, wenn man selbst der Enttäuscher ist. Jedes Mal wenn also einer fragte, ob ich die Nerven live gesehen hätte (und ich nicht das Naheliegende "Ja, und es war furchtbar" antwortete), galoppierte ich also los und schwärmte von der Kraft und den Texten und der Bühnenpräsenz und dachte zwei Minuten später "uiuiui, wenn sie heute dann scheiße sind, dann bin ich der Depp oder vielleicht sogar schuld.". Völlig grundlose Bedenken übrigens.

Meine Hauptbefürchtung an diesem Abend war aber eine andere: Würde es noch ein Exemplar der limitierten "Hörst Du mir zu?" 12inch geben, auf der sich die über 20 Minuten lange Version des Titelstücks befindet. Des Songs, den Die Nerven bei ihren Konzerten in die Länge ziehen und es schaffen, eine hypnotische Wirkung zu erreichen. Ähnlich wie beim Waldstock im Sommer, als der Mob begierig auf die Fortsetzung des Songs (in Form brachialer Gitarren) wartete, damit man mit dem "Hau ich dir als Erster in die Fresse, dann kannst Du mir nicht mehr in die Fresse hauen"-Pogo weiter machen konnte, funktionierte der Song auch am Samstagabend wieder 1a. Ich kann leider nur den hundert Mal bemühten Vergleich des DJs bemühen, der den Bass rausdreht und die Menge auf die Folter spannt und diese das Wiedereinsetzen mit einem fröhlichen "Wooohooohooo" quittiert - denn so sind die Regeln. Wenn man die Raserei der Bärtigen und Glatzköpfigen und Mädchen sah, die im Laufe der guten Viertelstunde entstand, dann weiß man was ich meine.

Wie sie es machen? Keine Ahnung. Ein bisserl Neid gestehe ich da gerne ein, wenn ich sehe, wie die drei Herrschaften auf der Bühne in einem Alter stilsicher sind, in dem sich manch einer (zum Beispiel: Der Schreibende) noch finden musste und von Irrung zu Wirrung tappte und sich dann 20 Jahre später eingesteht, was man doch für eine Pappnase war. Müssen die Nerven nicht. Schnell mal zurück gespult, was zuletzt geschah: Im Video zu Angst spielt die Band zwar mit, aber nicht ihren Song. Den lassen sie von Doubles vortragen und diese Doppelgänger sind - WTF! - Tocotronic. Dann gibt es Spex-Artikel, die in höchsten Tönen verzückt sind und schon die neue Musikgeneration heraufbeschwören, bietet sich bei den prägnanten, kurzen, deutschen Namen ja an: Die Nerven. Messer. Trümmer. Zucker. Candelilla. Zwischendurch macht man noch eine Kurzreise nach Israel und spielt mit Acts der dortigen überschaubaren Underground-Szene.

Haben wir schon von der Musik gesprochen? Das großartige Album FUN trifft ja so nebenbei im Frühjahr 2014 ein. Noch mal ein Riesenschritt nach dem schon sehr guten FLUIDUM zwei Jahre vorher (im selben Jahr erschien ganz im Vorbeigehen auch noch das bandcamp-only-Album ASOZIALE MEDIEN). Als ob das noch lange nicht langte, reichen die Nerven dann noch die eine oder andere Cover-Version dem interessierten Fan nach. Wie der semi-gute Sommerhit "Summertime sadness" von Lana Del Rey zum ergreifenden "Sommerzeit Traurigkeit" wird ist schon aller Ehren wert. Der Geniestreich folgt aber am 1. April 2013. Das Datum kündigt es bereits an: Ein Scherz (bitte so lesen wie es Graf von Lowtzow in "This Boy is Tocotronic" singt). Wie aus dem Idioten-Liebeslied für komplette Tiefflieger "Ein Stern (der deinen Namen trägt)" durch eine andere Instrumentierung, Verschleppung des Tempos und eine völlig andere - wohl zum ersten mal: richtige! - Intonation ein Gänsehaut erzeugender Song für die Ewigkeit wird, das wurde in den Sagen der Musikgeschichte eigentlich immer nur mit dem Seeleverkaufen der alten Bluesmänner plausibel erklärt.
Selbstredend werden diese Cover-Versionen live nie gespielt. Keine (KEINE) andere Band erlaubt es sich, auf solche 100% Hits zu verzichten. Zudem verschwindet der Aprilscherz-Sampler KARTOFFEL auch einen Tag später wieder aus dem Netz frei nach Gorbatschows "Leben"-Bonmot.

Absurd, wenn Mitvierziger wie ich immer noch von der Musik der Anfangszwanziger geflasht und mitgerissen werden? Na ja, eher ja wohl ein Beweis dafür, das Die Nerven vieles richtig machen (ohne nachzurechnen würde ich aus der hohlen Hand schätzen: alles). Die Aufgewühltheit des Konzerts begleitet mich jedenfalls immer noch (wie das Pfeifen im Ohr), fast ist der Wahnsinn schon so weit gediegen, sich Die Nerven am Montag noch mal in Würzburg zu gönnen, wieder eine Affentour für den Restglauben an das Wahre und Gute. Zum Glück nur fast.
Aber ist die Musik nicht eigentlich für jüngere Menschen gedacht, Gleichaltrige gar? Mag sein. Als ich spät nachts wieder heim komme, dröhnt der stumpfeste Assi-Teschno aus der Studenten-WG und verpestet das Karma in der ganzen Straße. Die Bewohner wird man dann wohl auch erst in 20 Jahren bei den Nerven sehen. Frühestens.
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Kommentare

AsJörchla am 19.11.2014 um 11:55 Uhr:

zum glück hast du die vorband nicht erwähnt.. warum auch? DIE DIE DIE-Basser und gianna nannini auf droge? da geh ich lieber in nen fußballverein..
war das eigentlich deutsch? oder ne ganz eigene sprache?

zu den nerven unterschreib ich alles was du geschrieben hast!
absolut irre, wie die jungs aus den noise-parts immer und immer und immer immer wieder, auf den punkt, in die melodischen nerven-klänge zurück kommen.
die stimmung muss nicht geschaffen werden, denn nach dem ersten ton, ist sie da und wird durch den ganzen abend getragen.

FUN FUN FUN..!!! ('til his girly takes the 12inch away)

barracuda am 19.11.2014 um 20:57 Uhr:

Hallo Motor!

Möchte mich deiner Meinung anschließen: Die Nerven in Würzburg waren laut und verzerrt. Irgendwie eigenartig. „Hörst du mir zu?“ hatten sie ziemlich weit vorne auf der Setlist; gab's glücklicherweise noch zu kaufen. https://www.youtube.com/watch?v=8D5Yr2A3PGI

PS: Wie hieß denn die Vorband in München? Im Cairo hat Buzz Rodeo gespielt. Fand ich gut. Ebenfalls Stuttgart.

motorhorst am 20.11.2014 um 07:17 Uhr:

In München waren Friends of Gas (Website) Vorband und ich fand sie jetzt nicht so schlimm wie AsJörchla, aber auch nicht unbedingt das, worauf ich vor den Nerven noch Bock hatte (wusste vorher gar nicht, dass es nen Support gibt). Deutsche Texte waren es übrigens und in einem doch eher ungewohnten musikalischen Umfeld. Teilweise Postpunk, dann aber auch wieder etwas viel Muckertum auch optisch. Die Stimme der Frontfrau war auf jeden Fall sehr gewöhnungsbedürftig, sehr viel Shoegaze-Hall aber auch sehr heiser. Könnte ich mir bei Gelegenheit mal anhören, aber nicht in dem Kontext. Die Frontfrau von Ata Taka Katta (siehe eine andere Nerven-Rezension von mir) war auch mit von der Partie.

"Hörst Du mir zu?" war auch in München sehr weit vorne (denke mal an Position 4-5) und "Nie wieder scheitern" zum Beispiel gar nicht im Programm. Auch ein Luxus, wer es sich erlauben kann, solche Titel von der Setlist zu streichen oder "wenig prominent" (kommt halt immer drauf an, was man erreichen will) zu platzieren.


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