Cobain

08.04.2014 | 2 Kommentare | motorhorst

To lose and to pretend: 20 Jahre später.
Am 8. April 1994, einem Freitagabend, saß ich zusammen mit Freunden bei einem Nerd-Hobby, als das Telefon klingelte. Ein weiterer Kumpel war am anderen Ende und verkündete, dass Kurt Cobain Selbstmord begangen hätte und tot aufgefunden worden wäre. Das war in diesem Moment noch nicht die vollkommen erschütternde Nachricht gewesen. Erst ein paar Wochen vorher hatte es geheißen, er hätte sich in einem Hotelzimmer in Rom umgebracht, was sich dann als Überdosis heraus stellte. Die laufende Nirvana-Europa-Tournee wurde abgebrochen, was meine Entscheidung das Münchner Konzert (das sich dann als das letzte der Nirvana-Geschichte heraus stellen sollte) nicht zu besuchen, etwas schmerzhafter machte.

Nun war es im Jahre 1994 bereits eine Leistung, jemanden am Freitagabend überhaupt per (natürlich Festnetz-)Telefon zu erreichen. Was aber komischerweise trotzdem immer klappte, ansonsten wusste man schon, wo sich die Baggage herum trieb und man konnte sie dann in persona in der Kneipe, Disco oder im Bierzelt treffen. Was mehr als anderthalb Jahre vor meinem ersten WWW-Kontakt weitaus problematischer war, war JETZT und SOFORT Informationen über ein aktuelles Ereignis zu bekommen. Ein Fernseher mit Video-Text war zwar aufzutreiben, aber damit Informationen über einen eventuell toten Rockstar dort kurzfristig auftauchten, musste es sich schon um einen Superstar handeln, der zig Jahre im Business war und deshalb auch lang gediente Zuschauer bzw. VT-Leser nicht überforderte.

Also MTV angemacht. In der wunderschönen Zeit der frühen Neunziger gab es dort noch regelmäßig Nachrichten, kurz vor der vollen Stunde. Meist waren das recht tumbe PR-Schnipsel, die dann auch noch x-fach wiederholt wurden, aber dieses Mal, war der Aufmacher doch ein anderer. Dieser Schnipsel, den man danach hundertfach in Wiederholungen wieder sehen durfte, bestätigte um 23 Uhr die Nachricht, die uns vorher ereilt hatte. Auch wenn der Todestag später auf den 5. April zurück datiert wurde, wird für mich immer der 8. April der Tag bleiben, der ins Gedächtnis genagelt wurde.

Wie albern man es immer fand, wenn in den Nachrichten der 10., 15. oder 20. Todestag von Elvis, Jimi Hendrix, Jim Morrison, Janis Joplin oder wie sie alle heißen, erwähnt wurde. Vielleicht weil das alles Namen aus einer anderen Zeit waren und der Rockstar als Drogenopfer zur Folklore der alten Musik gehörte. In unserer Generation gab es keine toten Musiker, gut, da gab es Andy Wood von Mother Love Bone, über dessen Namen wir aber erst nach seinem Tod stolperten. Weil wir das Temple Of The Dog-Album natürlich kauften und liebten, aber vor allem, weil daran Musiker von Soundgarden und Pearl Jam beteiligt waren. Im Nachgang wurde dann auch das Mother Love Bone-Album "Apple" besorgt und gehört und dann bedauerte man, dass es nichts neues mehr von der Band geben würde, aber Woods Tod war eben lange vorher und nur dadurch konnte ja z.B. Pearl Jam erst entstehen, etc.pp.
Aber jetzt war der Sänger einer unserer Lieblingsbands tot. Selbstmord. Auf dem Gipfel des Erfolgs.

Als ein paar Jahre vorher Nirvanas Smells Like Teen Spirit zum ersten Mal bei 120 Minutes oder Headbangers' Ball lief (ich denke, es war die erstgenannte Sendung), war ich eher so semi-beeindruckt. Das Video war schon gut, auch wenn es nicht wirklich eine Geschichte erzählte, das Gitarrenriff einprägsam, aber der Song jetzt nicht unbedingt der Ohrwurm, der nicht mehr aus dem Kopf wollte. Als dieses Ding namens "Grunge" aufkam, waren Alice In Chains und Soundgarden eher die Bands meiner Wahl, also die beiden der Big Four, zu denen man als Metal-Hörer am ehesten einen Zugang fand. Alice In Chains sahen aus, wie eine kaputte Version einer Sleaze-Band und hatten ebenso wie Soundgarden diesen harten Bass-Sound, die herunter gestimmten Gitarren und vor allem diese absurden Melodieführungen, die man aus dem Heavy Metal-Bereich eher nicht kannte. Auch die endlosen Gitarrensoli (was mich schon immer gestört hatte) und das Eunuchengekreische suchte man im Grunge eher vergeblich, selbst Chris Cornells höhere Gesangspassagen wurden eher zum kehligen Gebrüll als zum Jodeln eines Rob Halford oder King Diamond, da konnte ich mich schon besser wiederfinden.

Pearl Jam und Nirvana waren da schon fast kommerzieller im Vergleich, was sich auch im schnellen Erfolg der beiden Bands wieder spiegelte. Das klingt jetzt aber viel negativer als die Realität aussah. Nevermind war nach mehrfachem Anhören natürlich ein großartiges Album und Ten von Pearl Jam überragte sowieso alles. Die ersten 6 Songs sind nur Hits, wenn man bei Porch und Oceans ein paar Abstriche macht, könnte man sogar sagen, dass das Album komplett aus Singles besteht.

Nicht Kurt Cobain

Letzten Endes wurde dann aber Kurt Cobain das Gesicht und Sprachrohr des Grunge (und - soll ich es wirklich schreiben? - "einer ganzen Generation"). Und warum er auch nach 20 Jahren noch als Role Model taugt und nicht nur irgendein Trottel war, der selber schuld ist, weil er Drogen genommen hat und doch alles hatte und zufrieden hätte sein müssen und bla, das steht hier:

Durch die Grunge-Bewegung im Allgemeinen aber Nirvana im Besonderen, wurde ich auf die Independent-Szene und allem was da unter dem Mainstream schlummerte, wirklich aufmerksam. Auch wenn z.B. die Sendung 120 Minutes auf MTV da schon etwas Vorschub geleistet hatte, war es schon vor Amazon so, dass "Kunden, die Nirvana hören, auch mal das hier hören sollten" die beste Referenz war, um sich mit Neuem und Ungehörtem zu beschäftigen. Sollte ich in meinem damaligen Print-Fanzine die Einstürzenden Neubauten noch als unhörbaren und unstrukturierten Krach beschimpfen, würde dies bald eine meiner Lieblingsbands werden. Mit Grausen denke ich heute noch an eine Stunde im Englisch-LK Ende der 80er zurück, als es um Lieblingsmusik ging und ein Mädchen hinter mir verschüchtert "The...Pixies...?" sagte und wir alle nur verständnislos glotzten. Kurt Cobain hielt sich nie zurück, wenn es darum ging, Einflüsse und Referenzen zu nennen und diese zu promoten: Ob das durch Tragen von Flipper- oder Daniel-Johnston-Shirts geschah, durch das Covern von Songs der Vaselines, von Shocking Blue oder später den Meat Puppets und Lead Belly oder dem nimmermüden Erwähnen von Bands und Einflüssen in Interviews.

Anti-Sexismus, Anti-Homphobie, Feminismus.
Auch hier ist wieder das Featuren, Namedroppen und Promoten weiblicher Künstlerinnen und Bands zu nehmen, was Cobain ein großes Anliegen war. Unterstützt durch einen Song wie "Rape Me", den man nur als Pro-Vergewaltigungssong interpretieren konnte, wenn man jenseits des Titels nicht mehr auf den Text hörte und der dennoch von Cobain bei jeder Gelegenheit nochmals zum Anti-Rape-Song erklärt wurde. Das immer weiter wachsende Publikum bedurfte einfach auch immer detaillierterer Erklärungen, notfalls mit dem Holzhammer. In dem Zusammenhang ist auch die Begebenheit zu nennen, als bei einem Nirvana-Konzert ein Fan mit Guns N'Roses-Shirt zum Stagediven auf die Bühne sprang und Kurt ihm erklärte, dass er nicht gleichzeitig Anhänger seiner Band und von einer sexistischen Kapelle wie Guns N'Roses sein könne. Der Sage nach zog der Fan sein Shirt aus, sprang von der Bühne und das Konzert wurde fortgesetzt. Generell sind die Streitigkeiten mit Guns N'Roses legendär und meist auch mit chauvinistischen Geschichten verbunden.
Cross dressing war bei Nirvana an der Tagesordnung, das Highlight war vielleicht Cobains Auftritt in einem Ballkleid beim Headbangers' Ball, wo er dem verdutzten Riki Rachtman erklärte, es handle sich doch um einen "Ball" bei der Sendung, das sagte doch schon der Titel. Des weiteren gab es ganze Konzerte, in denen die Band geschminkt und in Kleidern oder Dessous auftraten. Wohlgemerkt nicht in diesem Hairmetal-Drag der 80er, der dennoch ganz groß "Machismo" schrie bzw. diesen sogar noch unterstrich, wie etwa bei Poison oder Mötley Crüe.

Nicht zu unterschätzen ist auch Cobains Vorbild in Sachen Mode oder Anti-Mode. Beinahe jedes Video- oder Bühnenoutfit von Kurt Cobain ist ikonografisch, ob das gestreifte T-Shirt aus dem "Smells Like Teen Spirit"-Video, der rot-schwarze Pullover aus "Sliver" oder natürlich das Unplugged-Outift mit dem grün-grauen Cardigan. Ähnlich verhält es sich mit den Fotos von Nirvana, die man ja wirklich so gut wie alle kennt oder schon mal gesehen hat. Jetzt zu den 20-Jahre-Gedenkartikeln taucht das eine oder andere Polaroid oder Konzertfoto aus der 78. Reihe auf, das wie ein Sensationsfund behandelt wird. Bedingt ist das durch die unheimliche Präsenz und Total-Ausschlachtung jedes einzelnen Fitzelchens zu Hochzeiten der Band und natürlich nach dem Selbstmord des Sängers.

Zum 23. Mal weise ich gerne darauf hin, wie prägend für mich in den frühen 90ern die Wirkungen des Musikgenres Grunge, des Buchs Generation X von Douglas Coupland und des Films Slacker von Richard Linklater waren. Jahre bevor Schlingensief für seine Partei als Slogan "Scheitern als Chance" wählte, waren die Coupland-Definition "Losing is an option" verbunden mit der entsprechenden Zeile aus Nirvanas "Smells Like Teen Spirit", nämlich "It's fun to lose and to pretend" für mich Motto und Antrieb (so paradox das klingt). Dies gilt bis heute. Diese Verweigerungshaltung habe ich immer begriffen als "Hey, probieren, kann scheitern, egal", während sie in den Medien gerne als die Hoffnungslosigkeit und das Nichtwollen der Generation X durchs Dorf getrieben wurde.

Ich hatte die Diskussion mit dem Kollegen Christian_alternakid kürzlich auf Faceboom, möchte als Abschluss aber noch mal auf die Bedeutung des Unplugged-Konzertes hinweisen. Das Unplugged-Album ist das Nirvana-Werk, das ich damals am seltensten gehört habe und auch heute kaum auflege. Der Unplugged-Gedanke war von jeher vom Rockisten-Anspruch von der "ehrlichen, handgemachten Musik" geprägt, deren Beherrschung durch das Selberspielen wie bei einem Bandwettbewerb unter Beweis gestellt werden musste. Die Parodie, die aus dieser Idee im Laufe der Zeit wurde - man denke nur an Performances von Toten Hosen, Udo Lindenberg oder den Sportfreunden Stiller - sollte man aber mal vergessen und sich den Auftritt vom November 1993 noch einmal ins Gedächtnis rufen. Hier waren alle oben beschriebenen Elemente vereint.
Das Featuren von unbekannten Künstlern, was durch den Gastauftritt der Meat Puppets geschah, von denen Nirvana gleich drei Songs spielten. Dazu Cover von Lead Belly, den Vaselines und David Bowie. Und der Verweigerung, Hits wie Smells Like Teen Spirit, Lithium oder Heart-Shaped Box zu spielen. Cobain trug zudem ein T-Shirt einer obskuren All Girl Band aus den 80er Jahren namens Frightwig.
Das Bühnenbild, das bis ins Detail durchgeplant war und ja oft genug nachträglich als symbolische Trauerfeier interpretiert wurde.
Und natürlich Cobains Witz und Schlagfertigkeit, als etwa eine Zuschauerin "Rape me" forderte und Cobain antwortete: "I don't think MTV would let us play that." oder die Ansage vor About A Girl: "This is off our first record - most people don't own it."

Ich bin mir nicht sicher, ob Nirvana jemals meine absolute Lieblingsband gewesen war. Wäre ich mit Kurt Cobain befreundet gewesen, wäre er in meiner Parallelklasse gewesen wäre? Jemand der rauchte, Drogen nahm, mehr oder weniger im Müll lebte oder unter Brücken? Auch mit einer gewissen künstlerischen Begabung, aber ein Außenseiter eben? Vermutlich nicht, oder? Anstatt hier eine abschließende Würdigung oder Einschätzung seiner Bedeutung vorzunehmen, die sicher voller Pathos wäre und weit übers Ziel hinaus schießen würde, ein Tweet von Krist Novoselic:
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Kommentare

Max Power am 08.04.2014 um 11:23 Uhr:

Bei mir ist auch immer der 8.4.

Ich habe das tatsächlich irgendwann gegen Mitternacht aus dem Sat1 Videotext erfahren.

babygirliegirl am 08.04.2014 um 23:08 Uhr:

Das Schöne an den Songs von Nirvana ist, dass sie nicht altern
und gerade für Teenies echte Hymnen bleiben :)
(hoffentlich noch lang...)


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