Oh Boy

18.02.2013 | 4 Kommentare | motorhorst

Was für ein Film. Was für eine Besetzung. Und das kommt aus Deutschland? Ernsthaft? OK, Berlin spielt ne Rolle, aber ich muss noch mal fragen: Wirklich?
Ein großes Lob mal wieder an das Cineplex in Bayreuth. Wenn man viele Filme hier schon nicht zeigt oder zeigen kann, schafft es der eine oder andere dann doch in die Filmauslese Delikatessen. Nachdem dies in der letzten Woche der  Fraktus-Film war, den ich - grrrr - trotzdem nicht sehen konnte, stand dieses Mal Oh Boy auf dem Zettel.

Eines der kleinsten Säle in Bayreuth war dabei gut gefüllt, man könnte fast sagen, dass alle 30 Filminteressierten in der Stadt anwesend waren, aber das stimmt nicht, es hatte sich auch der eine oder andere Schwätzstudent eingefunden.

Oh Boy ist der vielleicht erste, rundum gelungene Berlin-Film. In schwarz-weiß gehalten benutzt er das heutige Berlin dermaßen gut als Kulisse, dass man ständig nur mit der Zunge schnalzen möchte. Er verwendet Klischees, klar, aber auf eine stellenweise so subtile Art und ohne groß Aufhebens drum zu machen. Die Kaffeeverkäuferin, die in Stresssituationen ins Schwäbeln verfällt. Die Bedienung im White Trash, die natürlich englisch mit den deutschen Gästen spricht. Die Termine-Ausreden von Hauptdarsteller Tom Schilling, die immer die Ausflucht darstellen sollen, aber leider nie funktionieren.
Ich habe mir direkt nach dem Film vorgestellt, wie diese Handlungselemente in einem ... sagen wir doch mal .... Til-Schweiger-Film integriert worden wären. Wie der Running Gag des Kaffee-Nicht-Kriegens dort wohl umgesetzt worden wäre. Wie man dort wohl drauf hingewiesen hätte, dass man sich gerade in Berlin befindet. Wie lustig wohl dort erst der Döner-Kauf in Kreuzberg gewesen wäre. Ja richtig, in Oh Boy wird kein Döner gekauft. In Schweigers Oh Boy! Oh wääh! wäre aber Döner gekauft worden, ich schwör!

Was für ein Film! Was für ein Casting! Bis in die kleinste Nebenrolle wurde hier kein Fehler gemacht. Der Typ, der die MPU durchführt! Der zunächst nervige alte Säufer am Ende in der Kneipe, der dann plötzlich in die tiefsinnigste Szene des Films überleitet, dass einem nur der Mund offen stehen bleibt. Der Schauspieler mit der Naziunform, der so unglaublich emotional ist, wenn er von seiner Rolle erzählt, wie es Schauspieler so furchtbar gerne sind. Und das Schwärmen setze ich gerne bei den kleinen Feinheiten der Handlung fort: Das Golfspiel mit Schneider. Dessen Ausgang eben nicht mit dem Holzhammer präsentiert, sondern wunderbar fließend gezeigt wird: "Tja, dann hol ich mal die Getränke."
Die einzige Figur, die direkt aus einer deutschen Komödie stammte war glücklicherweise nicht auf der Leinwand zu sehen, sondern saß - wo sonst? - zufällig neben mir (fast schon übertrieben dargestellt von Katja Riemann).

Extra-Punkte natürlich dafür, dass die entscheidende Szene kurz vor Ende in der Bar des Weltstars Kurt Le Roy (Dark Circle Knights) spielte.

Was für ein Monument von einem Film. Was ein Schlag in die Fresse aller "Wir können das in Deutschland gar nicht"-Sager und von 80 Millionen Besuchern von "Koko Wääh". 

Eigentlich wollte ich dem Film 8 Punkte geben, aber hey, warum eigentlich nicht? 9 von 10 Punkte.

Für alle Bayreuther Cineasten: Der Film läuft am Mittwoch, 20.02.2013 noch mal um 17 Uhr und um 20 Uhr.
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Kommentare

Christian_alternakid am 18.02.2013 um 10:02 Uhr:

Absolut.
Ich würde ja auch sagen: mein liebster deutscher Film im letzten Jahr, aber dann fühl ich mich schon schlecht, weil, warum sollte man bei Oh Boy gerade dieses schulterklopfige "für einen deutschen Film gut" verwenden, wo er doch gerade dieses sonst oft so ärgerlich deutsche in den Komödien einfach ignoriert und einen Film macht, der halt auch New York oder Paris sein könnte - aber eben immer Berlin ist.
Dass das auch noch ein Debütfilm ist und für praktisch umme gedreht wurde, Wahnsinn.
Und noch schöner: das Ganze hat halt auch noch - in dem für ihn möglichen Rahmen - Erfolg. Es ginge halt doch, wenn man nur eine Idee, Vision, Whatever hat und einen Film dreht ohne Kompromiß, ohne Schielen auf Publikum oder Kritikerkaste.

motorhorst am 18.02.2013 um 10:13 Uhr:

OMG, ein Debüt ist das auch noch? Bin gestern aus dem Kino mit den Worten "Sofort schauen, was es sonst noch von dem Regisseur gibt".
Ansonsten hast Du alles auf den Punkt gebracht.

Christian_alternakid am 18.02.2013 um 11:25 Uhr:

Ich habe zwar keine Ahnung, ob und wann der tatsächlich mal in deutsche Kinos kommt, aber "Frances Ha" von Noah Baumbach (der auch den empfehlenswerten "The Squid & The Whale" gemacht hat, den man trotz des Idiotentitels anschauen sollte) mit Greta Gerwig (die auch das Drehbuch geschrieben hat), ist ein sehr verwandter Film. Oh Boy fand ich noch ein wenig besser, aber Frances Ha ist schon auch sehr gut - und zeigt halt praktisch das gleiche aus der Brooklyn-Perspektive:

http://blogs.taz.de/popblog/2013/02/18/berlinale-9-frances-ha-von-und-mit-greta-gerwig-und-gloria-mit-paulina-garcia/

babygirliegirl am 19.02.2013 um 16:56 Uhr:

Jep, Frances Ha hat mir auch super gut gefallen!


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